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Publikationen

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Neuauflage geplant für 2023/2024

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Erscheinungstermin 2023

Vorträge und Seminare zu Themen der Analytischen Psychologie

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Ich-Komplex und Ich-Funktionen, Schatten- und Komplextheorie, Archetypenlehre, Selbstkonzept,

Das Göttliche Kind, Religion und Analytische Psychologie, Individuationskonzept,

Jung'sche Traumtherorie und Traumarbeit / Symboltheorie.

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Öffentlichkeitsarbeit für Themen der Analytischen Psychologie

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Funk- und Fernsehinterviews   (WDR und SWR),

Mitinitiator und Autor der Kölner Zeitschrift "Jung-Journal" (erscheint heute in Stuttgart).

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Artikel

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Zum Verständnis des Dunklen in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs in:

Theologie und Psychologie im Dialog, Bonifatius­Verlag Paderborn.

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 "Die Modellvorstellungen der Analytischen Psychologie"    2. Ausgabe, Jung-Zeit, Köln

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"Der persönliche Schatten" -"Der archetypische Schatten" 3. und 4. Ausgabe, Jung-Zeit, Köln

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''Ein neuer Zugang zur Religiösität". C. G. Jungs psychologische Annäherung an die Religion,

5. Ausgabe Jung-Zeit, Köln

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''Die inneren Wirkbilder vom Kind und vom göttlichen Kind in uns" in:

Analytische Kinder und Jugendlichenpsychotherapie, 3/2002, Verlag Brandes & Aspel

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Hier finden Sie ein Diagramm von Dieter Schnocks zur Verdeutlichung der Konzepte

der Analytischen Psychologie. Es entstand auf der Grundlage eines Konzeptes

von Fr. Dr. Ursula Eschenbach, C. G. Jung-Institut Stuttgart.

(Ursula Eschenbach, 1996  Bd 4/Seite 1: Der Ich-Komplex und sein Arbeitsteam.  Bonz-Verlag)

Göttliches Kind

Textbeispiel

Die inneren Wirkbilder vom Kind
und vom göttlichen Kind in uns

1. Übersicht

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Die Analytische Psychologie Jungs hat mit ihrem Archetypenkonzept zum Thema Kind zusätzlich zu den üblichen Sichtweisen eine bedeutende tiefenpsychologische Ergänzung anzubieten. Im Folgenden sollen wichtige Aspekte des Kind-Themas für die vier verschiedenen Ebenen des Persönlichkeitsmodells der Analytischen Psychologie beleuchtet werden.


Zuerst gilt es, das Kind aus dem Blickwinkel des Ich-Bewusstseins zu betrachten. Dann stehen die Kind-Aspekte des persönlichen Unbewussten im Blickfeld, die sich stark in das Erleben und Verhalten einmischen. Schließlich führt der Artikel zur Archtypenebene des kollektiven Unbewussten. Hier ist das starke Wirkbild des Archetyp des Kindes anzusiedeln, welches tiefenpsychologisch gesehen hinter allen erfahrbaren Kind-Aspekten steht.
 

Schließlich soll aufgezeigt werden,wie der Zugang zum Kind - innen wie außen - und wie therapeutische Heilprozesse bei Kindern und Erwachsenen durch den Kind-Archetyp und seine Verbindung zur Selbstebene zentral mitinitiiert werden. 

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2. Ich-Bewusstseinsebene und Kind-Aspekte

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Wir alle erleben Kinder in unserer Umwelt. Wir haben eigene Kinder oder nehmen die der anderen wahr. Auch unsere eigene Kindheit ist uns mehr oder weniger präsent. Erinnerungsengramme bilden somit unser sogenanntes inneres Kind, das sich in vielen Lebenssituationen meldet. Psychologisch gesehen sind es viele verschiedene Kind-Aspekte, die ihre Wirkung auf uns ausüben.


2.1 Die bewusste Wahrnehmung des realen Kindes

Dem Thema „Kind“ begegnen wir in den Medien unter Schlagzeilen wie „Explosion der Weltbevölkerung“, „Geburtenrückgang in Mitteleuropa“, „Zunahme der Unfruchtbarkeit bei Paaren mit Kinderwunsch“. Das macht deutlich: Nicht nur für ihre Eltern verkörpern Kinder Zukunftsängste und -hoffnungen, sie sind die Zukunftsträger der gesamten Gesellschaft. Kinder zeichnen sich durch eine Reihe spezieller Eigenschaften aus. Wir beobachten bei ihnen erfrischende Spontaneität und eine erstaunliche Kreativität und Phantasie. Wir bewundern ihre Ernsthaftigkeit beim Spiel und stellen beeindruckt ihre Anpassungsfähigkeit auch an extrem schwierige Umweltverhältnisse fest. Es scheint, als lägen in der Kinderseele schier grenzenlose Entwicklungspotenzen bereit.


Beobachten wir Kinder genau, erfahren wir etwas über ihr besonderes Verhältnis zur Zeit. Der Zürcher Psychoanalytiker Barz sieht die Kinder ganz in der Gegenwart leben. Die Zukunft scheint für sie nur lockende Verheißung zu sein. Kinder kennen keine Last der Vergangenheit und auch das in der Zukunft liegende Ende und die Chiffre Tod belasten nicht ihr Bewusstsein. In der Jung´schen Psychologie wird dieser kindliche Ich-Zustand als Verbundenheit mit einer magischen Einheitswirklichkeit begriffen. Kinder reagieren, wie Jung meint, aus dem „Unus Mundus“, einer transzendenten Einheitswelt heraus. Auf der anderen Seite lassen sich aber auch negative Eigenheiten bei Kindern entdecken: Sie sind oft grausam und zerstörerisch, sie erleiden Höllenängste und sie erscheinen ihren hin und wieder genervten Eltern als kleine, schreiende, nimmersatte Ungeheuer (vgl.Barz, S.80 ff.).


Viele Eltern leiden und verzweifeln an der Auflehnung ihrer Kinder und den Ablösungsschlachten, die meist mit starken unbewussten Abhängigkeitsgefühlen einhergehen. Sie wissen zwar theoretisch um die psychologische Tatsache, dass Kinder zeitweilig feindlich und verachtend auf ihre Eltern schauen, um zu sich selbst zu finden. Dieses Wissen bewahrt die Eltern aber nicht davor, sehr darunter zu leiden.


Ich könnte noch eine Unmenge von Wesenszügen und typischen Verhaltenssequenzen aufzählen, die wir am realen Kind beobachten können. Ich begnüge mich aber mit dem Gesagten und stelle vorgreifend fest, dass all diese real erfahrbaren Wesenszüge und Verhaltenssequenzen aus dem Blickwindel der Jung´schen Psychologie als ein Produkt des präexistenten Kind-Archetypus anzusehen sind (vgl. Barz 1989, S. 81ff.).


Der Blick auf das reale Kind konstelliert in uns allen den Kind-Archetyp. Wir reagieren auf das Kind mit bestimmten archetypischen Mustern und auch das Kind reagiert mit der Summe seiner Wesenszüge auf in ihm vorhandene archetypische Impulse. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist die Konstellation des archetypischen Muttereros bei der werdenden Mutter. Ist das Kind geboren, reagiert sie auf das sogenannte Kindchen-Schema mit einer zumeist hingebungsvollen Mutterliebe, die die Existenz des Neugeborenen zu sichern hat. Und nicht nur Mütter reagieren auf Babys und das Kindchen-Schema. Wir alle spüren die starke Macht des Kind-Archetyps, der aufsteigt wenn wir kleine Kinder ansehen.

 

2.2 Unser Kindliches im Ich

Das sogenannte innere Kind spielt in vielen psychologischen Konzepten eine große Rolle. Am bekanntesten ist wohl die Transaktionsanalyse von Berne, in der, neben dem Erwachsenen-Ich und dem Eltern-Ich, das Kind-Ich eine zentrale Stellung einnimmt (vgl. Berne, 2001).  Das freie Kind und das angepasste Kind werden nach diesem Therapie-Konzept sorgfältig herausgearbeitet. So kann das innere Kind zu einer Quelle von Lebendigkeit werden.


Die Beschäftigung mit dem inneren Kind bringt natürlich zunächst einmal Biografisches aus der eigenen Kindheit zu Bewusstsein. Für viele bedeutet die Begegnung mit ihm einen Zugang zu elementaren Bedürfnissen wie Geborgenheit, Wärme, Ruhe. Aber auch der Wunsch nach Bewegung und Fröhlichkeit kann geweckt werden. Wie ich später zeigen werde, wird in der Begegnung mit diesen Emotionen bereits die Schwelle zum archetypischen Kind-Bereich überschritten (vgl. Seifert, 1998).


In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich zu beobachten, wie Erwachsene auf die Sandspiel-Methode (Kalff, 1996) reagieren. Sie wird gelegentlich in jungianisch orientierten Praxen im Rahmen analytischer Therapien angewandt. Offensichtlich evoziert der Sandkasten auch in erwachsenen Sandspielern Kindhaftigkeit. Das Sandbild gestaltet sich, indem aus der Tiefe der Psyche Energien aufsteigen, die oft in beeindruckender Weise zu aussagekräftigen Bildern werden. Diese Bilder dienen als Grundlage für den therapeutischen Dialog.


2.3 Das Kindische in unserem Ich

Wenn wir sagen „sei nicht so kindisch“ oder „das ist ein kindischer Mensch“, meinen wir meist Personen, die in besonderer und problematischer Weise naiv geblieben sind. Diese Art der Zwangsnaivität, bei der Ernsthaftigkeit und erwachsenes Wahrnehmen geleugnet werden, spricht unsere Fühlfunktion in negativer Weise an. Die Realitätsleugnung des kindischen Menschen löst Bedenken und Kritik bei uns aus. Kindische Verhaltensmuster in extremer Form finden sich vermehrt bei Menschen, bei denen in der psychoanalytischen Doagnostik von „narzißtischer Störung“, von „Frühstörung“ oder von „infantiler Fixierung“ gesprochen werden kann.


Wird ein Mensch beispielsweise von seinen kindischen Emotionen getrieben und fühlt oder verhält er sich wie ein nimmersattes, schreiendes Ungeheuer, dann spricht die Tiefenpsychologie von „oraler Neurose“. Auch kindische Grausamkeit, höllische Ängste und destruktive Zerstörungslust bei manchen psychisch Erkrankten wirken auf uns erschreckend. Offensichtlich werden diese Menschen immer wieder von kindischen Emotionen überflutet, die ihr problematisches Verhalten bestimmen.

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3. Die Kind-Aspekte im persönlichen Unbewussten

 

Freud hat uns als erster die theoretische Erkenntnis nahe gebracht, dass in unserem Innern emotionale Erfahrungen abgespeichert sind, die bei unserem Fühlen und Tun die Fäden mitziehen. Jungs Theorie sieht dieses „Persönliche Unbewusste“ angefüllt mit energetischen Komplexfeldern, die die Brennpunkte unserer Persönlichkeit bilden. Ganz besonders die emotionalen Erfahrungen aus der Kindheit erweisen sich in vielen Lebenslagen auf beeindruckende Weise als wirksam.


3.1 Die Kind-Aspekte im Schatten - verdrängte Emotionen und verdrängte Kreativität

Dem Theorieverständnis der Analytischen Psychologie zufolge bewahren wir unsere verdrängten oder vergessenen Erfahrungen, die aus verschiedenen Gründen dem Ich inkompatibel erscheinen im Schattenkomplex unserer Seele auf. Die Inhalte wurden ins Unbewusste abgeschoben. Hier sind unter anderem auch die kindlichen Emotionen abgespeichert, die wir im Laufe unserer Erziehung verdrängen mussten. Insbesondere auch unsere dunklen, kindlichen Seiten, die wir meinten vor den Erwachsenen verstecken zu müssen.

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Jung spricht in seinem Artikel über den Kind-Archetyp davon, dass das Bild des Kindes uns an die vergessenen Kindheitsdinge erinnere (Jung, 1940, S. 174 ff.).  Unmengen von verdrängten Kindheitsemotionen und damit insbesondere auch unsere kreativen Impulse werden im Schattenkomplex festgehalten. Wer nun Bezug zu diesen Kind-Inhalten aufnimmt - über aktive Imagination oder durch eine gezielte analytische Arbeit - und in den Schattenkeller seiner Seele hinabsteigt, dem begegnet eine Vielzahl dieser Bildern und er erlebt die damit verbundenen Emotionen.


Der Stuttgarter Psychoanalytiker Seifert empfiehlt bei der Imaginationsmethode, dem inneren Kind bis zur Geburt nachzugehen und es in der aktiven Imagination durch die einzelnen Stadien des Lebens zu begleiten. Die vielen Gefühle, die mit Kindergarten, Schule, Elternhaus, Spiel- und Freizeiterleben verbunden sind, können über die Wiedererfahrung und -belebung neu verstanden werden. So schafft diese Form der Durcharbeitung eine gewisse Vertrautheit mit dem inneren Kind, was die Voraussetzung für die Begegnung mit dem Bild und den Energien des archetypischen Kindes darstellt (vgl. Seifert, 1998).


3.2 Die in den Komplexen gespeicherten Kindheitserlebnisse

Theoretisch betrachtet ist natürlich nicht nur der Schattenkomplex, sondern sind viele Komplexe des Seelenhaushalts mit Kindheitsemotionen angefüllt. In vielen Komplexfeldern unseres persönlichen Unbewussten finden sich emotionale Abspeicherungen dessen, was wir als Kind erlebt haben. Der persönliche Teil unserer Seele ist durchdrungen von kindlichen Emotionen, die zum Teil mit dem Mutter-, Vater-, mit dem Geschwisterkomplex und all den anderen komplexhaften Energie- oder Emotionsgebilden des persönlichen Unbewussten in Zusammenhang stehen.


In Übereinstimmung mit Freud lässt sich feststellen, dass die Kinderfahrungen in unserer Gesamtpersönlichkeit eine bedeutende Rolle spielen. Viele dieser im Inneren gespeicherten Emotionen ziehen im Hintergrund die Fäden, wenn wir uns emotional verhalten. Mit unserer Komplexausstattung begegnen wir dem realen Kind, und unser Verhalten und unsere Gefühle Kindern gegenüber sind immer mitgeprägt von unseren komplexhaften Kindheitsemotionen.


Natürlich ist unsere Komplexaustattung auch ausschlaggebend, wenn wir uns mit den Bildern von göttlichen Kindern beschäftigen. Die Schweizer Analytikerin Kast vermutet, dass jemand, der eine nicht sehr glückliche Kindheit hatte, die er nicht gut verarbeiten konnte, den Bildern von göttlichen Kindern nicht sehr positiv gegenüberstehen wird. Er wird emotionalen Erfahrungen diesem archetypischen Feld gegenüber misstrauisch sein und sie abwehrend filtern. Wer aber das Glück hatte, eine relativ gute Kindheit gehabt zu haben, wird wenig Schwierigkeiten haben, über sein inneres Kind Zugang zu den energetisch stark aufgeladenen Bildern von göttlichen Kindern zu finden (vgl. Kast, 1995/96).


3.3 Die Kinder in unseren Träumen

Aus unseren unbewussten Seelengebieten steigen nachts die Träume auf. Insbesondere Szenen mit Babys und Neugeborenen erlebt fast jeder einmal in seinen Träumen. Im Folgenden stelle ich drei beispielhafte Kurzträume von Patienten in Therapieprozessen vor. Jedes Mal wurden die im Traum erlebten Geburten von den Träumern als positiver Zugewinn erfahren. 


Eine junge Frau träumte zu Beginn einer beruflichen Umbruchphase:
„Ich soll auf ein ganz kleines Kind, so groß wie ein Embryo, aufpassen. Es ist ein Junge. Ich nehme es in meine Hände und lege es in die Sonne. Es fühlt sich nun sichtlich wohl.“ 


Eine andere Patientin konnte sich nach einer sehr schwierigen Lebensphase an den folgenden Traum erinnern: 
„Ich bekomme ein Kind. Der geborene Embryo ist in einem Ei drin. Er scheint nicht zu leben. Erst als ich ihn in meiner Hand wärme, wacht er auf und wächst ganz schnell auf Normalgröße.“

 

Auch ein Mann (ein Musiker) träumte von der Geburt eines Kindes:
„Ich bekam ein Kind. Ein kleiner Junge. Er schlug die Augen auf und sagte: Musik.“

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Nicht selten erscheinen auch Bilder vom eigenen Kindsein in unseren Träumen. Jung sieht diese Kind-Träume als Kompensation der Seele zu einer zu starren und personahaften Ich-Persönlichkeit. Das Kindhafte im Traum ergänzt die Kindferne im Ich und stellt einen Gegenpol dazu her. Es erinnert uns daran, wo wir herkommen, also an die Kindgefühle, unsere Erfahrungen der Kindheit, aber auch an die Lern- und Werdewelt unserer Kindheitsentwicklung. 

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4. Das archetypische Bild des Kindes

 

Die Analytische Psychologie geht davon aus, dass neben dem inneren Bereich des persönlichen Unbewussten ein kollektives Unbewusstes existiert, das archetypische Strukturen enthält. Die Archetypentheorie spricht von Archetypen, d.h. Dominanten oder Motivschwerpunkten im Unbeswussten, die zuerst unanschaulich sind, jedoch als Urbilder in der Psyche wirksam werden. Diese energetischen Wirkfelder des kollektiven Unbewussten sind es dann auch, die in bestimmten Lebenssituationen Bilder mit entsprechenden Emotionen entstehen lassen. Die Auswirkungen der Archetypen sind nach Jung „die großen und entscheidenen Mächte, sie bringen die echten Ereignisse hervor (...) Es sind ohne Zweifel die archetypischen Bilder, die das Schicksal des Menschen bestimmen“ (vgl. Jung, 1935).


Ein solches starkes kollektives Wirkbild ist das des Kindes. Nach Barz zeigt der Kind-Archetypus zwei Gesichter: den Kind-Archetyp und den Archetyp des göttlichen Kindes (Barz, 1989, S. 80f.).


4.1  Die Wirkungen des Kind-Archetyps

Der Kind-Archetyp ist der Archetypus des menschlichen Kindes, dessen Auswirkungen wir im Auftreten typischer Situationen und typischer emotionaler Symbole erfahren können. Er steuert die kindliche Entwicklung und stellt in den jeweiligen Entwicklungsphasen die spezifisch notwendigen Energien zur Verfügung. Natürlich tritt er nicht isoliert auf, sondern meist in Verbindung mit dem Vater- und dem Mutter-Archetyp. Im Kind, wie in den Eltern evoziert der Kind-Archetyp die Vater- und Mutter-Archetypen. So kommen die notwendigen Energien zustande, die in dieser Lebenssituation typischerweise erforderlich sind. Anschaulich wird das besonders bei einer schwangeren Frau: Der Kind-Archetyp konstelliert bei ihr eine große Aufladung der positiven Seite des Mutter-Archetyps.


Ein weiteres eindrückliches Beispiel stellt die gewaltige Aufladung des Kind-Archetyps am Ende seines Spektrums, während der Pubertät, dar. Als Gegenpol gegen erstarrte Elternstrukturen erwächst aus dem Kind-Archetyp beim jungen Menschen Revolution und Widerstand. Nicht selten verbunden mit hoher Emotionalität. Diese Energien richten sich oft gegen eine als erstarrt empfundene Elternwelt, deren Vertreter die eigenen Eltern sind. 


Viele der Kinder in unseren Träumen können wir als Repräsentanten des menschlichen Kind-Archetypus verstehen. Das menschliche, alltägliche Traum-Kind ist eben noch nicht göttlicher Natur, sondern ein Bild aus der Mutter-Vater-Kind-Trias, mit ihrem archetypischen Hintergrund. Womöglich besitzen solche Traum-Kinder bereits so etwas wie numinosen Charakter, die Bilderfahrung vermittelt das Gefühl einer großen Bedeutsamkeit und hat so etwas wie bezwingende Kraft. Solche Traumkindbilder weisen auf das göttliche Kind hin, stellen es aber noch nicht in seiner Fülle dar (vgl. Barz, 1989, S. 86).


4.2 Das archetypische Bild des göttlichen Kindes - Symbol des Anfangs und der Fülle der Möglichkeiten

Wir finden das psychologische Motiv des göttlichen Kindes in der Mythologie, in der Kunst, in der Literatur und in unseren Träumen. Im göttlichen Kind-Archetyp sieht Jung ein treffendes Beispiel für ein Phantasiebild mit unpersönlichem Charakter. Das Bild stamme aus den kollektiven Strukturelementen der menschlichen Seele, sei demnach archetypisch. Das weltweit und häufig vorkommende Kind-Motiv zeigt sich individuell als unwillkürliche Manifestation in persönlichen oder kollektiven Phantasiebildern. Im Mythos sind es traditionelle Formungen von meist unschätzbarem Alter. Im archetypischen Bild wird dargestellt, wie die Seele eine psychische Grundtatsache erlebt. Dabei ist zu beachten, dass Mythen erlebt und nicht bewusst erfunden werden (Jung, 1940, S. 165ff.).


Kollektiv kann sich das Motiv des göttlichen Kindes immer dann konstellieren, wenn das Gefühl einer verloren Vergangenheit entsteht und dies mit dem Verlust eines Heilsbringers verbunden ist. Nach Jung taucht das mythologische Kind-Motiv am Ende von Kulturepochen auf. Ein Erstling, ein neuer Verkünder bringt in dieser Situation Hoffnung und Neugestaltung (Jung, 1940, S. 165ff.).


Individuell entsteht die uralte Bildchiffre des göttlichen Kindes aus unserer Seelentiefe, wenn es zur persönlichen Weiterentwicklung benötigt wird. Die Tiefenpsychologie beobachtet, dass es sich bei jedem von uns nach sehr dunklen persönlichen Krisenzeiten konstellieren kann. So wird oft nach Zeiten der Regression mit depressiven Stimmungen, Lust- und Interesselosigkeit aus dem Archetypus des göttlichen Kindes Neues geboren. In einer solchen psychischen Situation entdecken wir „Göttliche-Kind-Energien“ in unserer Umgebung. Auf jeden Fall spüren wir sie oder wir träumen davon. 
 

So träumte ein Analysand im letzten Teil seines analytischen Prozesses folgenden Traum:
„Ich erlebe die Geburt eines Kindes. Es ist eine ganz besondere Geburt. Sie ist von Blitz und Donner begleitet. (Ich denke im Traum an die Jesusgeburt und an die Geburtsszene von Ronja Räubertochter.) Das neugeborene Kind ist sehr zerbrechlich und hat die Form eines Weihnachtsplätzchens. Ich habe das Gefühl eines wesentlichen und wichtigen, d. h. besonderen Ereignisses.“


4.3 Die Bilder von göttlichen Knaben und Jünglingen

Alle Mythologien haben Bilder für das göttliche Kind entworfen. Die Fülle der symbolischen Aussagen der verschiedenen Gottkind-Figuren, besonders ihre Geburts- und Kindheitsgeschichten mit ihren tiefgründigen psychologischen Weisheiten lassen sich hier natürlich nur kurz andeuten. Aber um sich den strukturellen Merkmalen des göttlichen Kindes zu nähern, lohnt es sich, einige mythologische Gottkind-Bilder stärker zu beleuchten.


4.3.1 Das göttliche Kind der Ägypter: Horus

Horus, der oft auch als Falke dargestellt wird, ist der Sohn der Isis und des Osiris. Isis, die große Mutter gebiert psychologisch gesehen als Uroboros (Neumann, 1984, S. 209ff.) das göttliche Kind. Sie ist als Vorstufe unserer christlichen Madonna die gute Gebärerin, Beschützerin, nährender Boden und Symbol der Güte und Gnade. Auf der anderen Seite trägt Isis aber auch Züge der furchtbaren Mutter (symbolisch gesprochen: Kastrationsaspekte). Dies wird möglicherweise in den verkrüppelten Beinen des Horus deutlich, die uns den furchtbaren oder kastrativen Aspekt der Gebärerin Isis ahnen lassen (Schwarzenau 1984, S. 76ff.).


Der Vater des Horus, Osiris, ist die große Gestalt des ägyptischen Mythos. Er stellt, tiefenpsychologisch gesehen, die Ganzheit des Selbst dar. Sein Mythologem beinhaltet die Kastration des leiblichen Penis. Er wird durch einen Kunstphallus ersetzt, mit dem Osiris dann in Isis den Horus zeugt (Schwarzenau, 1984, S. 58ff.).  Bewusstseinspsychologisch betrachtet ist Horus als das junge Ich zu verstehen, das aus der Vereinigung des Kultur-Osiris und der Isis-Madonna geboren wird.


4.3.2 Die Kinder des griechischen Götterhimmels: Apollon, Hermes, Zeus und Dionysos

Apollon ist ein bedeutender Gott der griechischen Kultur. Sein großes Heiligtum ist Delphi, wo er in seiner Beziehung zum Delphin (dem Uterustier) verehrt wurde. Oft wird Apollon daher mit seinem Symboltier, dem Fisch, als ein delphinreitender Knabe mit Blumen im Haar dargestellt. Dabei wird sein psychologisches Knospendasein stark betont. Im Mythos vernichtet Apollon ein Ungeheuer und wirft damit seine Kindheit ab, er wird zum erwachsenen Gott (Kerenyi, 1966, S. 76ff.).


Hermes ist auf antiken griechischen Vasen häufig als gefeiertes Gott-Kind abgebildet. Sein Kultbild Herma ist ein aufrecht stehendes Stück Holz oder ein Stein. Seine besonders beachteten Merkmale sind seine Fähigkeit zur verlangenden Liebe, aber auch zum Diebstahl und zum Handel. Aus seiner Verbindung mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, geht der Hermaphroditos hervor. Von besonderem Interesse ist Hermes´ Beziehung zur Urmusik. Es wird überliefert, dass er aus dem Panzer einer Schildkröte, dem Symbol der urweltlichen Sicherheit, eine Leier fertigt. Der junge Gott wird daher auch oft Leier spielend und auf dem Delphin reitend abgebildet. Hier besteht ein geheimnisvoller urweltlicher Zusammenhang zwischen Wasser, Kind und Musik, der auf eine besondere Kreativität hinweist (Kereniy, 1966, S. 81ff.).

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Zeus ist der größte und mächtigste unter den Götterknaben. Bevor wir ihn im Götterhimmel als Vater der Götter und Menschen antreffen, ist aber auch er ein göttliches Kind. In den Zeus-Mythen ist seine Kind-Form zwar vorhanden, wird aber nicht durchgängig betont. Die Priorität liegt beim erwachsenen Gott, was deutlich macht, dass in der Mythologie das Göttliche alterslos oder in vielen Altersvariationen dargestellt wird. Vor allem in Kreta zeigen Darstellungen den Zeus jugendlich und bartlos und auch auf dem Festland finden sich Orte, an denen eine Säuglingsopfertradition auf das mythologische Zeus-Kind hinweist. Obwohl Zeus in vielen Variationen als Knaben-Gott angesehen wurde, scheint sein spezifisches Wesen mehr auf den reifen Gott-Mann hinzudeuten (Kereniy 1966, S. 90ff.).


Dionysos wird, wie Apollon, als delphinreitender Götterknabe dargestellt. Er hat einen besonderen Bezug zum Meer, zur See, er ist ein in der See Geborener. Ein klassisches Bild des griechisch-göttlichen Urkindes. Der Kindheitszustand hat bei Dionysos sehr viel Gewicht, denn seine unbeschwerte, naturbezogene Art zeichnet ihn aus. Darstellungen zeigen ihn den Getreide-Phallus schwingend und er ist betont zwiegeschlechtlich. Nicht selten wird er als füllige Gestalt dargestellt, die dämonisch tanzt (Kereniy, 1966, S. 100ff.).


Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die griechischen Götterknaben eine Art Urkind verkörpern, das aus dem Nichtsein noch nicht ausgeschieden und doch schon da ist. Kerenyi spricht von ihrem kindlich-schwebendem Charakter. Sie seien so etwas wie Verscheidende zwischen Dasein und Nichtsein. Das Urkind sei das noch Ur-Unentschiedene (Kereniy, 1957, S. 103f.).  Und doch enthalten diese Götterknaben die Möglichkeit zur Entfaltung zum Höchsten. Nach den Vorstellungen der Analytischen Psychologie heißt das: Aus dem Allerstärksten, dem Selbst, tritt das Ich, das zunächst Allerschwächste, heraus und beginnt mit der Fülle seiner Ressourcen seinen Entwicklungsweg. Neumann nennt diesen Prozess „Filialisierung des Ichs aus dem Selbst" (Neumann, 1980, S. 28ff.).


4.3.3 Das indische Götterkind: Krishna

Hier drei Erzählungen, ausgewählt aus einer Vielzahl mythologischer Geschichten, die sich um das Gott-Kind Krishna ranken:
Eine Geburtslegende berichtet, dass der alte König des Landes die bevorstehende Geburt Krishnas als Bedrohung empfand und daher die Eltern aneinander fesseln und von Löwen, Hunden und Elefanten bewachen ließ. Die Wachen schliefen aber ein und der Vater konnte mit Krishna fliehen. Er brachte ihn zu einem Bauern, dessen Frau gerade eine Tochter geboren hatte. Krishna wurde in Mädchenkleider gesteckt und mit der Bauerntochter vertauscht. Somit entkam er erst einmal. Später wurde er jedoch vom König aufgegriffen und in seinem Zorn, schmetterte er Krishna in seiner Mädchenverkleidung gegen einen Felsen. Krishna verwandelte sich dabei und nahm die Gestalt einer Göttin an.


Nun ereignete sich, wie in der christlichen Herodes-Geschichte, ein großer Kindermord (Schwarzenau, 1984, S. 21ff.).

Die sogenannte Putana-Geschichte erzählt von der Dämonenbedrohnung im weiteren Leben Krishnas: Krishna wächst in einem Dorf bei Hirten (in einer Mutterwelt) auf. Doch selbst hier erscheinen Dämonen. Die wunderschöne Dämonin Putana erschleicht sich das Vertrauen der Pflegemutter und säugt Krishna mit vergifteten Brüsten. Krishna saugt jedoch mit der Milch auch das Leben der Dämonin aus und sie stürzt mit einem fürchterlichen Schrei tot zu Boden.(Schwarzenau,1984, S. 24)  
Der kreativ-schöpferische Aspekt der Krishna-Figur wird in der folgenden Geschichte deutlich: Krishna wird von einem Spielkameraden verpetzt. Er soll Lehm gegessen haben. (Wie im normalen Menschenleben.) Seine Mutter stellt ihn zur Rede und fragt ihn: Warum tust Du das? Krishna leugnet zunächst beharrlich, muss aber dann seinen Mund öffnen. Die Mutter entdeckt nun in seinem Mundraum die gesamte Fülle der Schöpfung: das Universum, den Weltraum, Sterne, die Planeten, Sonne und Mond, die Kontinente, die Gebirge und die Meere. 


Für Kast steht der Lehm für alles, was potenziell daraus zu machen ist. Krishnas Lehm ist somit ein Symbol für kosmische Kreativität. „Ist in den Augen des Schöpfers nicht alle Schöpfung einfach Lehm, oder andersherum gesagt, ist mit dem göttlichen Kind nicht eine Kreativität verbunden, die weit über das Persönliche hinausgeht?“ (Kast, 1995/96) .


4.3.4 Das christliche Jesuskind

Im christlichen Kulturraum wird im biblischen Lukas-Evangelium(Kap.2) die Geburt des göttlichen Jesuskindes erzählt. Der kleine Jesus ist später als Christus die dritte Person der Gottheit, der heiligen göttlichen Dreifaltigkeit. Auch das Jesuskind-Mythologem beinhaltet typische Merkmale des Gottkindes, die in den unterschiedlichen Kulturen immer wieder auftauchen. Das Außergewöhnliche dieses Kindes wird schon vor seiner Geburt deutlich: Der himmlische Vatergott zeugt auf übernatürliche und wunderbare Weise das Kind mit der irdischen Jungfrau Maria, die trotz dieser Geburt jungfräulich bleibt. Die Geburt Jesu vollzieht sich dann unter ungewöhnlichen Umständen: Das neugeborene Gottkind liegt in Armut und Ausgrenzung in einer Krippe im Viehstall. Einen starken Gegensatz dazu bilden die Hirten und die drei Könige, die es anbeten und verehren. Jesus erfährt als göttliches Kind nun (ähnlich wie Krishna) eine große Bedrohung an Leib und Leben - der alte König Herodes will ihn ermorden lassen. Durch seine Flucht nach Ägypten überwindet das Jesuskind den Widerstand gegen sein Weiterleben. Nach 30 Jahren Inkubationszeit kann das göttliche Drama des Christusweges seinen Lauf nehmen. 


4.3.5 Die göttlichen Mädchen

Neben den männlichen göttlichen Kindern finden wir in der Mythologie auch göttliche Mädchenfiguren. In der antiken griechischen Mythologie sind es die Koren, die Mädchen im Knospenalter, an der Schwelle vom Kind zur jungen Frau. Auch in der asiatischen Geburtslegende Krishnas lässt sich ein wichtiger Hinweis auf die weibliche Seite des Bildes vom göttlichen Kind entdecken. An der Stelle als Krishna sich, als Mädchen getarnt, in eine Göttin verwandelt.


Kerenyi und Jung haben sich ausführlich mit dem Bild des göttlichen Mädchens beschäftigt, das in vielerlei Hinsicht parallel zu dem des göttlichen Knaben zu betrachten ist (Jung, 1941). 


Auch die göttlichen Mädchen stellen symbolisch das Aufblühen der Neuwerdung als göttliches Ereignis dar. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Spezifischen des weiblichen Gottkindes kann hier nicht stattfinden, ist aber lohnend und hochinteressant.

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5. Die Strukturelemente des Kind-Mythologems

und seine psychologische Bedeutung

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In vielen Kind-Mythologemen finden sich ähnliche Merkmale. Das Bild des göttlichen Kindes zeigt einige wesentliche immer wiederkehrende Strukturelemente, die es prägen.


Einige wichtige sind:


1.    Entwicklung mit Charakter des Übernatürlichen. 
2.     Wunderbare Zeugung und Empfängnis. 
3.     Geburt unter ungewöhnlichen Umständen. 
4.     Verlassenheit und Bedrohung. 
5.     Vollkommenheit und Macht bereits als Kleinkind (Kast, 1995/96).


Auf einzelne ausgewählte Elemente möchte ich kurz eingehen und den Versuch machen, ihre universelle Form auch psychologisch zu verstehen.

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5.1 Übernatürlichkeit

Die Entwicklungsstadien des göttlichen Kindes tragen den Charakter des Übernatürlichen oder des Außergewöhnlichen. Es sind energetische Impulse, die Besonderes initiieren wollen. Für unsere persönliche Psychologie bedeutet dies: Das göttliche Kind in unserer Seele zeigt sich uns in unseren Phantasien und Träumen. Es sieht meist auf irgendeine Art ungewöhnlich aus, es verhält sich unkindlich oder es spricht Altersweisheiten aus.
 

Ein Impuls aus dem Kindarchetypus hat immer etwas Zwingendes hin zum Neuen. Wir fühlen uns von verändernde Kräften erfaßt, die mit quasi übernatürlicher Macht dazu drängen, wirksam zu werden. Auch in unserer Faszination für kulturelles Bildmaterial, bei dem das Ungewöhnliche des Gottkindes deutlich wird, erkennen wir die emotionale Intensität, die die Bilder des neuenschaffenden göttlichen Kindes in uns auslösen können.

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5.2 Wunderbare Empfängnis

Auf wunderbare Weise ereignen sich Zeugung und Empfängnis. Göttliche Kinder werden zwar meist auf natürliche Weise, wie die irdischen, geboren. Ihr Ursprung ist aber überirdisch und himmlisch. Der Gott und der irdische Elternteil begegnen sich bei der Zeugung.


Überträgt man dies auf unsere innerpsychischen Vorgänge, lässt sich feststellen, dass die besondere und mächtige Energetik der Bilder des göttlichen Kind-Archetyps sich immer in der wunderbaren Abweichung vom Werden des realen Menschenkindes ausdrückt. Die Mitabstammung vom Göttlichen und die besondere Empfängnis (z. B. die jungfräuliche Empfängnis) betonen seine große außerirdische Energiequalität. Dieses Neue hat durch seinen göttlichen Charakter in besonderer Weise Wichtigkeit für das weitere Leben. Seine Realisation bedarf deshalb unserer besonderer Unterstützung.

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5.3 Geburt unter ungewöhnlichen Umständen

Die Geburt der göttlichen Kinder trägt wunderbare Züge. Dies zeigt sich in den ungewöhnlichen Umständen, unter denen sie das Licht der Welt erblicken. Sie werden in Höhlen, Gärten, Ställen, in den Bergen oder im Meer geboren und häufig werden sie schon bald nach der Geburt zu Waisen.


Die ungewöhnliche Geburt bietet uns ein symbolträchtiges Bildmaterial, woraus ein großes Spannungsfeld zwischen arm und reich, groß und klein, mächtig und hilflos aufgebaut wird. Dieses Spannungsfeld ist wiederum die Voraussetzung für die energetische Mächtigkeit dieser archetypischen Dimension in unserer Seele. 


Insbesondere nach Zeiten starker polarer Gegensatzspannungen kann sich in unserem Inneren eine erlösend wirksame neue psychische Situation einstellen. Diejenigen, die eine solche Erfahrung bewußt erlebt haben, verstehen gut, weshalb das Bild des ungewöhnlich geborenen göttlichen Kindes diesen glücklichen und hoffnungsvollen Zustand so gut verdeutlicht.

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5.4 Verlassenheit und Bedrohung

Das göttliche Kind ist von allen verlassen, und sein Leben ist auf vielfältige Weise bedroht. Die Welt bejubelt sein Erscheinen, aber gleichzeitig formieren sich die Mächte der Finsternis, um es zu bekämpfen.


Das strukturelle Element der Verlassenheit ist psychologisch ein wichtiger Aspekt. Die Vertreibung aus der Geborgenheit, der Aufbruch in die unbekannte Welt und der Verlust der elterlichen Intensivbetreuung scheinen die besten Voraussetzungen für eine ernsthafte Weiterentwicklung zu sein. Erwachsen werden ist im Grunde nur in Einsamkeit möglich. Einsamsein stellt somit eine wichtige psychologische Voraussetzung für eine Entwicklung und den Fortschritt in Richtung Selbstverwirklichung dar. 
Die große positive Emotion, die uns oft in Verbindung mit realen Kindern, aber erst recht mit dem dahinter liegenden Tiefenbild des göttlichen Kindes ergreift, kann uns mutig, hoffnungsvoll und glücklich machen. 


Sie wird innerlich aber häufig bedroht und mit einer kraftvollen dämonischen Widrigkeit konfrontiert. Das bedeutet, dass wir immer bei Aufbruchs- und Neuwerdungsstimmungen auch mit den gegensätzlichen Emotionen, mit dunklen und oft mörderischen Energien, zu rechnen haben. Die Bedrohung des freudig begrüßten Neuen findet sich in archetypischer Weise in unserer Psyche. Die übermenschlichen, göttlichen Kräfte aus dem Unbewussten treffen immer wieder auf die mächtigen Feinde in unserer Bewusstseinswelt. Die alte, etablierte Weltsicht im Ich-Bewusstsein bedroht das Neue und will die Veränderungsimpulse aus dem Unbewussten auslöschen. Für das Bewusstsein bedeutet das große Konflikte und Gegensatzkämpfe und es passiert immer wieder, dass das neue innere Kind übersehen wird und wieder dem Unbewussten verfällt.


Für unser Unbewusstes stellt das innere göttliche Kind eine überlegene Kraft dar. Es kann nicht anders, als sich dem Drang und Zwang zur Neugeburt und damit zur weiteren Selbstverwirklichung zu überlassen. Es gebiert schließlich das göttliche Kind an das Bewusstsein in der Hoffnung, dass es den Widerstandskräften trotzen kann. Deshalb spricht Jung in diesem Zusammenhang von der tröstlichen Unüberwindlichkeit des Kind-Archetyps (Jung, 1940, S. 184ff.) .

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5.5 Vollkommenheit und Macht

Bereits im Kleinkindstadium zeigt sich die Vollkommenheit und Macht des göttlichen Kindes. Eine Vollkommenheit, die auf Polarität und der Vereinigung von Widersprüchen beruht. Das göttliche Kind ist oft nicht nur klein wie ein Kind und zugleich groß wie ein Gott, sondern es ist auch, wie es in den indischen Upanishaden heißt, „winziger als winzig und größer als groß“ (Barz, 1989, S. 90).  Auch die häufig erkennbaren hermaphroditischen Züge der göttlichen Kinder nehmen die Ganzheit vorweg und weisen auf die intrapsychische Vereinigung von Männlichem und Weiblichem hin.


Die Vollkommenheit wird auch darin deutlich, dass nicht nur die Lichtseiten des göttlichen Kindes gezeigt werden. Viele von ihnen verüben Streiche, bei denen Wunderbares und Grausames miteinander verbunden ist. Ein wichtiges Merkmal ist die Polarität - und damit die psychologische Ganzheit - des energetischen Impulses aus dem Gottkind. Wir müssen immer davon ausgehen, dass der neue Impuls Helles und Dunkles enthält und in dieser Ganzheit die Antiaspekte aufruft.


Wenn wir also unsere Neuwerdungsimpulse freudig begrüßen, dürfen wir nicht vergessen, dass sie energetische Widersprüche enthalten, und dass das Neue, einmal auf den Weg gebracht, sich mit vielen hellen und dunklen Facetten zeigen wird. Die Bedrohung durch die Antidämonen oder durch die Welt des Herodes ist im Grunde der erste große Kampf, der gekämpft werden muss. Das Alte, das Althergebrachte, das Bewährte will sich nicht kampflos dem revolutionären Anspruch des göttlichen Kind-Impulses ergeben. Bei jedem tiefergehenden Neuwerdungsimpuls in uns müssen wir demnach mit kraftvoller Konterrevulotions-Energie rechnen. 


Mit Kast lässt sich abschließend feststellen, dass der Archetyp des göttlichen Kindes sich aus drei Grund-Strukturelementen zusammensetzt (Kast, 1995/96).

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  • Der  Mutterraum, aus dem der hoffnungsvolle Neuanfang geboren wird.

  • Das  Göttliches Kind, welches stark ist und der Todesbedrohung trotzt.

  • Die  Dämonen, die die Widrigkeiten gegen den Neuimpuls darstellen.


6. Die Wirkungen des Kind-Archetyps

in analytischen Prozessen

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In analytischen Therapieprozessen, die auf den Ideen der Jung´schen Psychologie aufbauen, werden immer wieder auch Traumbilder mit Kinderdarstellungen bearbeitet. Die archetypischen Traumkinder zeigen sich vornehmlich dann, wenn ein Umbruch passiert oder eine Krise mit vielen Gegensatzkämpfen überwunden werden will.
Wie der Kind-Archetyp in einer praktischen analytischen Psychotherapie als typisches Grundmuster des Ablaufs zum Tragen kommen kann, möchte ich hier abschließend darstellen (Jung, 1940, S. 194f.).

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6.1 Das verlassene Kind

Zu Anfang des analytischen Prozesses zeigt sich oft ein vollkommen unbewusster Infantilismus, der Auslöser für viele Lebensprobleme ist. Im weiteren Verlauf findet nun eine Absonderung und Objektivierung des inneren Kindes statt und die alte, infantile Identität wird aufgelöst. In Verbindung damit kommt es zu einer starken Phantasieintensivierung, wobei nicht selten mythologische Bilder bzw. mythologische Züge sichtbar werden.

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6.2 Inflation und Größenwahn versus Mindertwert

Dann kommt der Heldenmythos zum tragen und damit eine neue Identität mit einer Art Heldenrolle. Aber auch diese Phase wird überwunden, die Heldenrolle wird aufgelöst. Es folgt eine wünschenswerte Reduktion auf menschliches Maß.

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6.3 Das Selbst wird geboren

Der gelungene Prozess tendiert schließlich dahin, dass sich das Persönlichkeitszentrum vom Ich hin zum Selbst verschiebt. So kann sich in der Persönlichkeit des Analysanden Selbst-Sicherheit im eigentlichen Sinne verankern. Und dazu bedarf es der Selbst-Geburten oder der Signale aus dem Zentral-Archetyp des Selbst. Nicht selten geschieht dies durch die Bilderfahrung der Geburt eines inneren göttlichen Kindes.


7. Das göttliche Kind als Ausdruck des Archetyp des Selbst

Jungs Persönlichkeitsmodell basiert auf der Grundvorstellung eines Zentralarchetyp des Selbst. Das Selbst umfängt die Einheit und Ganzheit der gesamten Persönlichkeit und initiiert auch die Konzentration auf eine Mitte, was ein wesentliches Element im Prozess der Selbstfindung oder Individuation ist. Nachdem die Projektionen zurückgenommen wurden, strebt das Selbst nach Du-Erkennung. Es möchte uns zu einer erweiterten Sichtweise der Welt anregen. Und will uns zur Aufgabe von Egoismen und zu einer Verpflichtung an die Gemeinschaft bringen.

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Geht der Archetyp des Selbst in uns auf oder meldet er sich, gibt es Lösung aus unseren Ich-Verstrickungen und wir gelangen auf einen konzentrierten Suchweg zum Selbst. Für den Einzelnen drückt sich dies in Bildern aus: die Suche nach dem Schatz, die Perle oder die Kostbarkeit. Oder eben in der geheimnisvollen und wunderbaren Geburt eines göttlichen Kindes.
Diese bedeutet nach Jung das psychische Erlebnis der Erscheinung eines noch unerkannten und neuen Inhalts. Er ist entstanden aus dem Zusammenprall von Gegensätzen und bedeutet Erlösung von der Gegensatzproblematik. Dieser Selbstimpuls als Kind-Bild ist vom Bewusstsein ständig bedroht - auch das Unbewusste ist bereit, seine Geburten spielerisch wieder zu verschlingen. Setzt der göttliche Kind-Impuls sich gegen die feindlichen Antikräfte durch, bedeutet das Kind zukünftige Selbständigkeit und Erwachsenwerdung. Das archetypische Kind-Symbol ist somit die Antizipation einer noch werdenden Bewusstseinslage (Jung, 1940, S. 182).

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Das heranwachsende göttliche Kind, das sich gegen das mordende Dämonische durchgesetzt hat, zeigt im Laufe der Jahre, dass das Selbst nicht nur helle, sondern auch dunkle Seiten hat. Man kann hier von einem paradoxen Kind-Gottbild sprechen, in dem das Tiefste und das Höchste, das Allerschwächste und Allerstärkste nebeneinander stehen. Es kann seine Riesenkräfte eben auch als dunkler Kind-Gott zerstörerisch nutzen. 


Besonders eindrücklich ist diese Dimension im griechischen Götterknaben Dionysos verkörpert, der in Wahnsinn und Ekstase handelt und später der Ich-Zerstückelung anheim fällt (Kereniy, 1957, S. 100ff.).

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Ein weiteres interessantes Beispiel aus einem ungarischen Mythos ist das göttliche Kind der Wojulen. Hier siegt das stark gequälte und gebeutelte göttliche Kind, indem es seine göttliche Kraft zerstörerisch anwendet: es tötet und mordet (Seifert, 1998).

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Auch in unserem christlichen Mythos lassen sich - versteckt im kryptischen Thomas-Kindheits-Evangelium - dunkle Seiten des Jesuskindes entdecken. So verwandelt Jesus nach einer Legende einen Spielgefährten, Annas Sohn, in einen verdorrten Baum, weil er ihn beim Spiel geneckt hatte. Einen anderen Knaben lässt er tot umfallen, weil er ihn angestoßen hatte und seine klagenden Eltern lässt er erblinden. Wir finden also selbst in unseren völlig entdunkelten Jesuskind-Legenden aus dem offiziellen Schrifttum verbannte Dunkelseiten der göttlichen Kind-Gestalt Jesu (Barz, 1989, S. 89f.).

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Aber zurück zur Ganzheitlichkeit des Kind-Archetyps. Jung stellte fest, dass in der griechisch-westlichen Geisteshaltung das Symbol des Selbst in seiner kosmischen Bedeutung aus der Tiefe des Körpers geboren wird. Demnach deutet die Geburt des göttlichen Kindes auf die innere Geburt des Selbst hin. Von dieser seelischen Erfahrung spricht der christliche Mystiker Meister Eckerhard mit den Worten: „Aufgehen des inneren Fünkleins, Aufgehen der innere Sonne oder des Gottes-Reiches in uns“ (Quint, 1995).


8. Summary

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With the concept of the archetypes the Analytical psychology of Jung offers an important supplementation to the psychoanalytic work concerning the subject child in addition to the usual points of view. In the article important aspects of the child subject are taken a look at; particularly in the four layers of the personality model of the Analytical Psychology. 

Firstly the child shall be considered under the perspective of the ego consciousness. Then those child aspects of the personal consciousness will come into the field of vision, which interfere with the human experience und behavior. Finally this article leads to the archetype level of the collective consciousness. Here we find – in the view of the depth psychology – the active archetype of the child, which stands behind all experienced child aspects. In the end will be pointed out, in which way the access to the child – inside and outside – and how therapeutic healing processes in children and adults are initiated. Especially here it ist important to look at the connection with the self.


9. Literaturverzeichnis

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Barz, Helmut: Zwei Gesichter der Wirklichkeit;  Artemis & Winkler Verl. 1989
Berne, Eric:Transaktionsanalyse in der Therapie ,Junfermann Verlag, Paderborn, 2001. 
Jung, C.G.: GW , Walter Verlag ,Bd.9, Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940/50
Jung, C.G.: GW ,  Walter-Verlag Bd.9., Zum psycjologischen Aspekt der Korefigur 1941/51
Jung, C.G.: GW , Walter Verl.,Bd.18., Über die Grundlagen der Analytischen Psychologie, 1935.
Kalff, Dora: Das Sandspiel, E.Reinhardt Verlag,  München,  1996.
Kast, Verena: Vorlesung WS 1995/96 Universität Zürich, Grundlagen der Jungschen  Psyhotherapie,  Der Archetypus des göttlichen Kindes, Cassettenprogramm 96/97, Bd 9,  Vier Türme-Verlag, Münsterschwrzach Abtei
Kerenyi, Karl: Humanistische Seelenforschung, Langen-Müller Verl. München.1966.
Neumann, Erich,: Das Kind  Bonz-Verlag, 1980
Neumann, Erich: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, Fischer TB, 1984
Quint, Josef, Hg.: Deutsche Predigten u. Traktate v. Meister Eckerhard, Carl Hauser Verl.1995
Schwarzenau, Paul: Das göttliche Kind, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1984
Seifert, Theodor: Vortrag Lindauer Therapiewochen 1998, Aspekte der Wirklichkeit, Göttliches Kind und alte Weisheit, innere Wirklichkeiten 
Upanishaden: Die Geheimlehre der Inder, Diederichs Verlag, Gelbe Reihe, 1983.

 


Literatur  (als Fussnoten)


(1)    Helmut Barz: Zwei Gesichter der Wirklichkeit; Exkurs: Göttliches Kind, Artemis & Winkler Verlag , 1989
(2)    dto
(3)    Eric Berne: Transaktionsanalyse in der Therapie ,Junfermann Verlag, Padaborn, 2001.
(4)    Th. Seifert: Vortrag Lindauer Therapiewochen 1998, Aspekte der Wirklichkeit, Göttliches Kind und alte Weisheit,

           innere Wirklichkeiten
(5)    Dora Kalff: Das Sandspiel, E.Reinhardt Verlag,  München,  1996.
(6)    C.G.Jung: GW Bd.9 Zur Psychologie des Kindarchetyps 1940
(7)    Th. Seifert: Vortrag (s.o.)
(8)    Verena Kast: Vorlesung WS 1995/96 Universität Zürich, Grundlagen der Jungschen  Psyhotherapie,  

          Der Archetypus des göttlichen Kindes Cassettenprogramm 96/97 Bd 9  

          Vier Türme-Verlag, Münsterschwarzach Abtei
(9)    C.G.Jung GW Bd.18, Über die Grundlagen der Analytischen Psycholgie 1935...
(10)    Helmug Barz: Zwei Gesichter... s.o.
(11)    dto
(12)    C.G.Jung:GW, Bd 9, Zur Psychologie des Kindarchetypus 1940.
(13)    dto
(14)    E. Neumann:Ursprungsgeschichte des Bewutßtseins, Fischer TB, 1984
(15)    Paul Schwarzenau: Das göttliche Kind, Kreuz-Verlag,Stuttgart 1984
(16)    dto
(17)    Kerenyi: Humanistische Seelenforschung, Das Urkind, Langen Müller Verl.Wien, 1966.
(18)    dto
(19)    dto
(20)    dto
(21)    dto
(22)    Erich Neumann, Das Kind  Bonz-Verlag, 1980
(23)    Paul Schwarzenau: Das göttl. Kind...s.o..
(24)    dto
(25)    Volesung V. Kast 1995/96...s.o.
(26)    C.G.Jung: GW Walter-Verlag, Bd.9, Zum psychologischen Aspekt der Korefigur 1941 
(27)    Merkmalsstrukturen V. Kast, Vorlesung 1995/96
(28)    C.G.Jung: GW  Walter –Verlag,  Bd.9  Zur Psychologie des Kindarchetypus 1940
(29)    Upanishaden Die Geheimlehre der Inder, Diederichs Gelbe Reihe 1983, aus Barz,Helmut,    Zwei Gesichter der   

             Wirklichkeit
(30)    Vorlesung V.Kast 1995/96 s.o.
(31)    C.G.Jung, GW, Bd.9 Zur Psychologie des Kindarchetypus 1940
(32)    dto
(33)    Kereniy: Humanistische Seelenforschung...
(34)    Th. Seifert: Vortrag, 1998
(35)    Helmut Barz: Zwei Gesichter...
(36)    Herausgeber: Josef Quint: Deutsche Predigten und Traktate von Meister Eckerhard, Carl Hauser Verlag , 1995

 

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